Alte Eiche an der Ems

52°00’31.2”N 7°44’37.6”E – Genius huius loci

Phänomenologie und Erkenntnis. Mythos und Epiphanie. Nationalstaatengedöns und Souveränität.

Größenvergleich
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Zielkoordinaten 52°00’31.2”N 7°44’37.6”E: ein alter Baum. Genauer: eine alte Eiche. Tipp vom Kerberos. Vielleicht 300-400 Jahre, vielleicht auch älter. In jedem Fall ein außergewöhnlich schönes Exemplar der Gattung Quercus robur, sagte jemand.

Zeit, phänomenologisch betrachtet

Trotz aller Skepsis: Aus der Nähe beeindruckt der Baumstamm schon allein durch seinen bloßen Umfang. Der urwüchsige Stamm teilt sich in einer Höhe von etwa zwei Metern in jüngere Eichenstämme auf, denen wiederum wuchtige Äste entstammen.  Das Auge springt über die tiefen Furchen der Rinde am mächtigen Stamm hinauf und hat in der Baumkrone noch immer die vom Alter zerfurchte Rinde im Blick, mit der die vielstämmige Eiche Wind und Wetter trotzt. Fulminant, auf welch unmittelbare Weise Zeit sichtbar wird!

Dabei erschließt sich die besondere Aura erst mit der scheinbar unermesslichen Spannweite der knorrigen Äste, die gleichsam Raum und Zeit überbrücken und die Atmosphäre wie ein erstarrtes Blitzlichtgewitter durchzucken. Offensichtlich, dass die Eiche im Altertum häufig mit blitztragenden Göttern in Verbindung gebracht wurde (Zeus, Jupiter, Thor, Donar, Taranis): es ist nicht allein das mögliche hohe Alter einer Eiche von bis zu 1000 Jahren und die daraus resultierende Stärke, sondern auch das bizarre Geäst.

Genius huius loci: Als für einen Moment gnädig die Abendsonne aufscheint und die Szene in ein beinahe sakrales Licht hüllt. Im rötlich aufleuchtenden Eichenstamm erscheint flüchtig die Silhouette eines weiblichen Wesens, mit schlangenartigen Armen, die sich der milden Abendsonne entgegenstrecken und einer wehenden Haarmähne gen Osten.

Unterm Baum

Andreas Mühe hat die Kanzlerin 2010 gerade nicht unter einer Eiche abgelichtet, sondern lapidar “Unterm Baum”. Für die Darstellung von nicht inszenierter Macht in Kontrast zu hoch aufstrebender, natürlichem und kraftvollem Wuchs wäre die Symbolkraft der Eiche zu mächtig, ihr Erscheinungsbild wiederum zu biedermeierlich erdrückend gewesen. So hat er sie ausgetrickst: der gewaltige Baum offenbart geschickt das in der bescheiden anmutenden Person Angela Merkel verborgene radikale Machtstreben. Die nationalen Stereotypen bedient die Kanzlerin trotzdem gerne: In der Tradition der Eichen-Pflanzerin Gerda Jo Werner auf der Rückseite der 50-Pfennig-Münze von 1948 hat sie als “Sinnbild für die deutsche Einheit” 2014 in Bonn eine Eiche gepflanzt.

Wege der “Weltweisheit”

Hätte Friedrich Gottlieb Klopstock nicht bereits 1769 in “Hermanns Schlacht” mit der Trinität aus Nationalstaatsgedanke, Gründungsmythos der Deutschen im Teutoburger Wald und überlieferter Symbolik der Eiche gezündelt [“Du gleichst der dicksten, schattigsten Eiche […] O Vaterland!”], die ideengeschichtliche Flamme hätte sich nur marginal verschoben auf ihrem Weg verzehrt, bis sie schließlich 1978 bei Anselm Kiefer  gleichwohl in (Eichen-?)Holz und Asche gelegt worden wäre.

Souverän

Auf den nationalen Seiten der momentan in Umlauf befindlichen kleinen deutschen Cent-Münzen sind aufgrund mangelnder botanischer Fachkenntnis die regelmäßig gebuchteten Blätter der eher osteuropäischen Trauben-Eiche neben dem Fruchtstand der heimischen Stiel-Eiche abgebildet. Die Rückseite der 1- und 2-Euro-Münzen prägt statt eines Adlers eine Taube.  So unaufgeregt kann der Umgang mit nationalen Symbolen sein.