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Shutdown – Der virologische Imperativ

Der brave Herr Spahn appelliert an die Vernunft der Bürger, wirbt mit #wirbleibenzuhause für freiwillige Quarantäne und kassiert eine Anzeige wegen Übertretung des Mindestabstandsgebotes im Aufzug der Uni-Klinik Gießen.  Wie war das noch mit der Lernkurve?

Solange kein Impfstoff gegen das Corona-Virus zugelassen ist, wird uns wohl der virologische Imperativ dominieren. Wir werden dazu aufgefordert uns so zu verhalten, als seien wir primär Virenträger und die menschliche Gemeinschaft eine Herde, deren Infektionsketten mit allen Mitteln unterbrochen werden müssen. Auf die Grundformel des virologischen Imperativs – Social Distancing und Hygiene – können wir uns verständigen. Eine Ausgangssperre oder andere weitreichende Eingriffe in die persönlichen Freiheitsrechte impliziert das nicht.

“Urplötzlich wird ein natur­wissen­schaft­liches, viro­lo­gisches Mo­dell als zwingendes Argu­ment für angeb­lich alter­nativ­lose politische Ent­schei­dungen ver­wendet. […] Doch es ist eben­so ein wissen­schaft­lich gut erhär­teter Befund, dass die Klima-Krise – nüchtern betrach­tet – gefähr­licher ein­zu­stufen ist als die Corona-Krise, weil sie den Fort­bestand der Mensch­heit ins­gesamt bedroht. Und es stellt sich vor diesem Hinter­grund die Frage: Warum wird denn kein Not­stand aus­gerufen, um der Klima-Krise zu begegnen?”

Markus Gabriel hat in der NZZ zur Vorsicht gemahnt, wenn in allzu frommer Wissenschaftsgläubigkeit in unser aller Freiheitsrechte eingegriffen wird. Denn ethisch-politische Entscheidungen folgten niemals allein aus der Logik der Verbreitung eines gefährlichen Virus. Der Interpretationsspielraum vermeintlich wissenschaftlich begründeter Entscheidungen lässt sich aktuell an den unterschiedlichen Maßnahmen der Bundesländer zur Lockerung der Restriktionen ablesen.

Die Lockerungen kommen zu einem Zeitpunkt, an dem die angeordneten Maßnahmen laut Deutschen Ethikrat ihre moralische Legitimität verlieren. Das ist der Fall – so der Deutsche Ethikrat in seiner Ad-hoc-Empfehlung vom März – sobald die Isolations-Strategie insofern Erfolg zeige, dass eine Überlastung des Gesundheitssystems vermieden werden könne, andere gesundheitliche, wirtschaftliche und politische Schäden nicht überwögen und der Ansteckungsfaktor dauerhaft unter eins liege. Das Robert-Koch-Institut schätzt ihn momentan auf knapp unter 1.

“Auf längere Sicht ist es selbst für eine gefestigte Demokratie problematisch, in einem Zustand zu verharren, in dem insbesondere die gerade als Korrektiv und Impulsgeber für die demokratischen Prozesse gedachten Grundrechtsgarantien weitgehend außer Kraft gesetzt sind […]”

Jede politische Entscheidung ist immer eine Abwägung unterschiedlicher Güter rechtlicher, sozialer, ökonomischer und nicht zuletzt auch demokratischer Natur. Keine politische Entscheidung ist alternativlos, auch nicht unter dem Diktat eines virologischen Imperativs. Dass dieser allzu leicht als Schutzschild nicht nur für Planlosigkeit und Überforderung dient, sondern auch für machtpolitische Ziele, macht die Pandemie zum idealen Terrain für staatliche Kontrolle und Konformität. Michel Foucault hat dieses disziplinarische Moment einer Seuche am Beispiel der Pest geradezu einen Traum von Regierenden genannt.

“Michel Foucault hat ganz richtig behauptet, dass Seuchen nicht nur Albtraum, sondern eben auch ein Traum der Regierenden sind, weil man dadurch Gesellschaften disziplinieren kann.”
Malte Thießen, TAZ

Niemand hat das besser begriffen als Markus Söder. Covid-19 – ein Träumchen für den bayerischen Ministerpräsidenten, der energisch eingreift, Bürgerpflichten einfordert und seine Schäfchen im Trockenen weiß.

Über das disziplinarische Moment hinaus beschreibt der Historiker Malte Thießen Seuchen als “Seismograph des Sozialen“. Viele Fragen werden angesichts einer Pandemie neu ausgehandelt: Raumkonstruktionen, Selbst- und Fremdbilder sowie Legitimationszwänge des Staates. Wer sind wir, wer sind die anderen, welche Normvorstellungen haben wir? Und wo werden soziale Grenzen gezogen?

Entscheidend ist jedoch zunächst, ob wir mit den neuen und zukünftigen Lockerungen einen exponentiellen Anstieg der Infektionsrate bis zur Verfügbarkeit eines Impfstoffes verhindern können. Einen Anstieg der Infektionszahlen wird es in jedem Fall geben. Aber sind wir ausreichend vorbereitet, wenn genau das passiert, was mit dem Lockdown eigentlich verhindert werden sollte?

Das Robert-Koch-Institut hält es für realistisch, für das Frühjahr 2021 mit einem Impfstoff zu rechnen. Vielleicht nimmt die Lernkurve des Herrn Spahn ja bis dahin einen steileren Verlauf.