William Kentridge, O Sentimental Machine, 2015

Lockdown – Office-Visionen

100 Jahre Home-Office. Genossin Heim-Offizier im Exil. Shutdown. Killall. Backup. Durchgedreht. Timeout.

“I’m interested in ideas that fall apart. In what’s in the gap left when we lose our sense of Utopian thinking. And in what’s to follow.”
William Kentridge, 2017

Der Albtraum einer Arbeitsbeziehung: Evgenia Shelepina zum Diktat bei Leo Trotzki im türkischen Exil (1929-1933). Trotzkis Kopf mutiert im Eifer des Gefechtes zu einem Megaphon, seine Stimme tönt blechern und mit wachsendem Crescendo. Die Sekretärin empfängt zunehmend mechanisch Trotzkis Befehle, ihr Arbeitstempo steigert sich zu einem wilden, maschinellen Stakkato, während sich das Endlos-Papier am Fußboden zu einem unentwirrbaren Haufen verheddert. Ein Sinnbild für die geistigen Auflösungserscheinungen der bedauernswerten Shelepina, instrumentalisiert als “sentimentale, programmierbare Maschine”, die Trotzki für den “Neuen Menschen” hielt.

“O Sentimental Machine” (2015) von William Kentridge  ist auch eine furiose Parodie auf gefühlt 100 Jahre Home-Office im Lockdown der Pandemie. Im Gegensatz zu Shelepina kann ich allerdings den Kopfhörer ablegen und das System am Abend komplett herunterfahren. Am Linux-Terminal befiehlt man hierfür ganz einfach “shutdown”.  Wahlweise wird mit “killall” jeder unerwünschte Prozess gnadenlos abgeschossen.

Der Shutdown führt im Lockdown zu echtem Stillstand.

Ich bin eine Arbeitsmaschine.

Und was kommt danach?

Durchgedreht

William Kentridge, O Sentimental Machine, 2015
William Kentridge, O Sentimental Machine, 2015
5-Channel HD Video Installation mit vier Megaphonen, Sound, 9 min 55 sec

Gegen Migräne empfiehlt die Apothekerin Tagebuchschreiben. Vermutlich hat sie mich missverstanden, obschon Tagebuchschreiben zweifellos ein probates Mittel zur Verhütung von Sportunfällen ist. Vielleicht war sie aber auch schon einen Schritt weiter: Wenn das Schreiben an sich eine derartige Wirkung im Gehirn auszulösen vermag, könnte doch auch – die Schraube noch eine Vierteldrehung weitergedreht – ein Denken “out of the box” ebenso möglich und wirksam sein.

Laut Internet-Pionier Jaron Lanier ist die Idee des “Mind-uploading”, also unser Gehirn in die virtuelle Realität upzuloaden, damit wir für immer in einer Software-Form weiterleben können, im Silicon Valley ziemlich verbreitet.

Eine vollständige Digitalisierung des menschlichen Bewusstseins würde beliebig viele Backups ermöglichen und demzufolge zu Unsterblichkeit führen. Das Gehirn wäre eine nur austauschbare Hardware für die Software des Bewusstseins. Die digitale Transformation wäre an ihrem Endpunkt angekommen und die Idee des Weltgeistes hätte sich in digitaler Form verwirklicht.

Der Logos ist digital.

Back-Office on the fly

Der Upload meines Gehirns ins digitale Netz hätte den Vorteil, den täglich spürbaren analogen Netzbeschränkungen nicht länger unterworfen zu sein. Ein Content würde, ohne auch nur einen Finger zu krümmen, ohne Token und VPN – ZACK – erstellt. Kein Gedanke, eventuell doch zur Telekom zu wechseln, weil das neue Glasfaserkabel auf der letzten Meile meinem Provider nicht zur Verfügung steht und die störanfällige Kupferverkabelung seit letztem Herbst gelegentlich massiv ausgebremst wird.

Fragen: Wie komplex wäre der Algorithmus für mein Gehirn? Lässt sich Kreativität quantifizieren? Wann werden wir zum Brain-Hacking gezwungen sein? Was würde Foucault dazu sagen? Und interessiert das heute überhaupt noch jemanden?

Office-Aporien: Rückkehr zum Ante-Corona-Status. Tägliche Pendelei. Arbeiten im Großraumbüro. Herr K. geht spazieren. Never Ending Story.

Post-Corona-Office-Visionen: Post-Office ist nicht das nächste Postamt. Home-Office ist das neue Normal. Flexibilität ist machbar. Wechselarbeitsplätze auch. Bürokultur ist keine Worthülse. Commitment ist kein Fremdwort.
Free Social Distancing.

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