zum-Timmelsjoch

Quäl dich!

Sauprosa und Berggrollen

Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn,
Im dunkeln Laub die Goldorangen glühn,
Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,
Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht?
Kennst du es wohl?
Dahin! Dahin […]
Goethe, Mignon, 1783

Wer bei Dauerregen keine schlechte Laune bekommt, wenn er am Morgen aus dem klammen Schlafsack in eine stockige Fahrradhose und nasse Schuhe steigen muss, ist wahrscheinlich nur auf Overnighter Tour oder ein Sonntagskind wie T. Aber nach zwei Tagen stumpfsinniger Inklusion im Zelt schien selbst mir eine nasskalte Passauffahrt zum Timmelsjoch weniger schlimm als ein unbestimmtes Ausharren auf dem Campingplatz in Sölden. Das Zelt hing durch, die feuchten Schlafsäcke auch und die Stimmung sowieso.

Also rein ins Chamois, durch Regen, Dunst und Kälte. Mit retrospektiv geschätzten 15 kg Gepäck plus gefühlt 10 % Nässe-Zuschlag und einer 52/42er Kurbel am umgebauten Trapezrahmen, der bergab sofort zu flattern anfing. Ulle hätte geweint, trotz High-Tech, Dope und guter Bezahlung. “Quäl dich, du Sau!”, hätte ich ihn angeschrien, so wie Udo Bölts 1997 auf dem Weg hinauf zum Col du Hundsrück in den Vogesen.

Kennst du den Berg und seinen Wolkensteg?
Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg,
In Höhlen wohnt der Drachen alte Brut,
Es stürzt der Fels und über ihn die Flut:
Kennst du ihn wohl?
Dahin! Dahin […]
Goethe, Mignon, 1783

Heftig mit den Elementen hadernd und heldenhaft die Kurbel tretend, grollte ich den Berg hinauf. Jeder Höhenmeter wurde der noch fehlenden Höhe zum Gespött, die karger werdende Landschaft zur Altlast meines Karmas und das lose Geröll der Schutthöcker zum Spielball der Dämonen.

Das Joch, der Timmel, der Pass des Dröhnens und des Donners hat uns nach dieser harten Prüfung mit einer grandiosen Aussicht überrascht. Wo wir herkamen, schifften nach wie vor die meteorologischen Schwergewichte gegen die Wand und brachten später sogar ein bisschen Schnee. Wo wir hinwollten, jenseits der Bergkette, lag uns Italien zu Füßen, gestreift von einem versöhnlichen Spätnachmittagslicht. Als uns die warme Gipfelhütte irgendwann wieder ausspuckte, zogen wir lang/lang über kurz/kurz unter Regenschutz an und alles, was wir sonst noch dabei hatten. Erhitzt haben sich in den steilen Serpentinen freilich nur die Felgen.

Ehrlich gesagt, ich habe  auch geweint, am Timmelsjoch und ebenso am Puy Mary, wo wir kaum einen Meter Sicht hatten und immer Angst, dass uns ein Autofahrer im Nebel übersehen könnte oder wir die Schutzplanke – so es denn eine gab.

Trotzdem: Der Weg war das Ziel, was zählte, waren Freiheit, Unabhängigkeit und – Preiswürdigkeit. Je beschwerlicher die Herausforderung, desto größer war das Freiheitsversprechen. Ein bisschen Masochismus gehörte dazu, wie der unerschütterliche Glaube, dass der Wille Berge versetzen kann.

Quod esset demonstrandum.

Historische Aufnahme